Der weiße Klang der Wellen

Was die italienische Pizza für den Gaumen, das ist Anita Shreve für das Gemü Über Qualität und Genuss mag man hin und wieder streiten, aber man kommt doch immer wieder darauf zurück. Diese Frau kennt eben das Leben mit allen ergreifenden Gefühlstälern, diese Frau hat lebenserfahrenes Verständnis für Männer und Geschlechtsgenossinnen im tiefsten Liebeskummer und denkt sich Geschichten — himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt — aus, die den Leser geradezu in einen emotionalen Schleudergang ziehen. Derartige Ergriffenheit über 350 Seiten aufrecht zu erhalten, dazu gehört schon etwas, nicht nur die immer wieder das Interesse des Lesers anfachenden Fragen (manchmal allerdings etwas penetrant!). Es sind wohl ganz besonders das hemmungslose Rühren an die uns innewohnende Schwäche für Kitsch — seien wir ehrlich! — und das reichhaltige Verwobensein von schicksalsträchtigen Fäden, das nun in ihrem neuen Roman erneut die Herzen kräftig bewegt. Dass sich zwei Menschen, beide mittlerweile verheiratet und der Lyrik verschrieben, nach Jahren wieder begegnen, immer noch ihre große Liebe zueinander empfinden und sich ganz sicher sind, füreinander bestimmt zu sein, das allein wäre schon Stoff für eine rosarote Filmgeschichte. Aber damit nicht von Missbrauch in der Jugend bis zu Alkoholproblemen, vom Schwulsein des Sohnes bis zum Tod der Tochter — Anita Shreve schöpft den Fächer der Lebensschicksale voll aus. Angesichts einer derartigen Fülle von Gefühlsduselei verliert die eigentlich schön angelegte Begegnung zweier Menschen stellenweise an Intensität, Glaubwürdigkeit und Konturen. Weniger wäre sicherlich mehr gewesen. Anita Shreve ist nicht umsonst seit Jahren Bestsellerautorin und so wird sich Der weiße Klang der Wellen nahtlos nach Olympia oder Die Frau des Piloten in die eindrucksvolle Erfolgsserie eingliedern. –Barbara Wegmann